14. Mai 2020 | Ausgabe 19

„Wir stehen vor einem Umbruch“

Bye-bye, Müll! Immer mehr Städte wollen ihre Abfallflut stoppen und Zero-Waste-City werden – auch Berlin. Wie soll das gehen? Ein Gespräch.

INTERVIEW Max Gehry | FOTOS Sonja Müller

Drei Männer im Anzug stehen lächelnd vor einer roten Wand.

Tilmann Heuser (links), 43, ist Geschäftsführer des Bundes für Umwelt und Naturschutz (BUND) Berlin. Stefan Tidow (Mitte), 52, ist Staatssekretär in der Berliner Senatsverwaltung für Umwelt, Verkehr und Klimaschutz. Andreas Thürmer (rechts), 53, ist Chef des Vorstandsbüros der Berliner Stadtreinigung (BSR).
 

Herr Tidow, Berlin will bis 2030 nahezu abfallfrei werden. Spulen wir die Zeit zehn Jahre vor. In welcher Stadt leben wir dann?
Stefan Tidow: In einer Stadt, die weniger Müll produziert als heute und die mit dem, was trotz alledem übrig bleibt, schlauer umgeht, als sie das bisher getan hat.


Wie sieht das im Alltag aus?
Stefan Tidow: In einer – zugegebenermaßen sehr mutigen Vision – werden wir zum Beispiel nur noch Hausmülltonnen in Mini-Formaten in den Hinterhöfen haben. Denn Reste, die nicht mehr verwertbar sind, fallen kaum noch an, seit wir organische Abfälle konsequent getrennt sammeln, um daraus Biogas zu gewinnen und die Überbleibsel zu kompostieren. Mit dem Biogas betanken wir Fahrzeuge. Und mit der Komposterde füllen wir die urbanen Gärten auf Brachen, Dächern und Balkonen, wo wir mitten in der Stadt frische Kräuter, Blumen und selbst gezogenes Gemüse ernten. Dass wir so wenig Hausmüll haben, liegt auch an den vielen Läden, in denen ich kaputte Dinge reparieren und ausgediente Gegen stände tauschen, teilen, verschenken oder recyceln kann. Mehr noch: Es gibt überall Gebrauchtwarenkaufhäuser. Verpackungen sind auf ein Mindestmaß reduziert, Wertstoffe werden optimal recycelt. Kurzum: In dem Berlin, in dem ich 2030 leben will, hat sich das, was wir unter Müll verstehen, grundlegend geändert – und entsprechend unser Umgang damit.


Ist das Berlin, wie es sich Herr Tidow vorstellt, dieselbe Stadt, in der Sie in zehn Jahren leben wollen, Herr Heuser?
Tilmann Heuser: Natürlich kann ich das als Umweltschützer noch weiter denken und sagen: In der Stadt, in der ich 2030 leben will, haben wir unser Konsumverhalten komplett geändert, wir haben die Wegwerfgesellschaft überwunden. Mit der Vision einer abfallfreien Zukunft vor Augen glaube ich jedoch, dass Pragmatismus die bessere Lösung ist. Wir brauchen konkrete, der Realität angepasste Ziele. Für den ersehnten Durchbruch der Kreislaufwirtschaft zu sorgen, zum Beispiel. Wo unsere Meinungen als Umweltverband mit der Politik und der Umweltverwaltung von Herrn Tidow nicht übereinstimmen, ist: Was kann man in welcher Zeit erreichen? Und wie verbindlich müssen die gesetzten Ziele sein? Mir sind die Vorgaben manchmal zu lasch.


In den weltweiten Rankings der lebenswertesten Städte taucht Berlin regelmäßig in der Top Ten auf. Als besonders nachhaltige Stadt sind wir bislang nicht gerade bekannt geworden.
Stefan Tidow: Aber genau hier ändert sich gerade etwas. Mit unserem Leitbild für „Zero Waste“ und dem neuen Abfallwirtschaftskonzept wollen wir die Abfälle von Privathaushalten und Gewerbetreibenden deutlich verringern. In Berlin gibt es heute eine sehr aktive Zero-Waste-Community. Inzwischen ist die Stadt so eine Art Labor geworden, in dem Menschen gute Ideen ausprobieren können.

Tilmann Heuser: Und genau das brauchen wir. Wir dürfen uns nicht mehr darauf verlassen, dass wir die Zukunft schon irgendwie packen werden, indem wir bloß unser bestehendes System verbessern. Wir müssen Müll viel stärker vermeiden. Der beste Abfall ist der, der gar nicht anfällt.


Null Müll? Ein Unternehmen wie die Berliner Stadtreinigung kann von dieser Vision nicht begeistert sein.
Andreas Thürmer: Das hören wir immer wieder. Wenn wir bei der BSR wirklich so dächten, würden wir nur zeigen, wie wenig wir verstanden haben. Manche mögen der Ansicht sein, Zero Waste und die Entsorger seien natürliche Feinde. Wir dagegen sagen: Zero Waste ist gut für alle, die in, mit und von einer Stadt leben. Warum also sollte die BSR kein Interesse daran haben?


„In dem Berlin, in dem ich 2030 leben will, hat sich das, was wir unter Müll verstehen, grundlegend geändert.“

Stefan Tidow


Weil Müll Ihr Geschäft ist.
Andreas Thürmer: Sehen Sie, 1990, kurz nach der Wiedervereinigung, lebten in Berlin 3,4 Millionen Menschen, inzwischen sind es fast 3,8 Millionen, bis 2030 werden wir wahrscheinlich zur Vier-Millionen-Metropole. Berlin wird sein Erscheinungsbild ändern: Es wird höher, dichter, voller, hoffentlich bunter und vor allem grüner. Das ist der Grund, warum sich die Stadt neu erfinden muss. Wenn sich Berlins Abfallwirtschaft zur Kreislaufwirtschaft entwickelt, braucht es jemanden, der diese Entwicklung managt. Das wollen wir sein.


Aber?
Andreas Thürmer: Kein Aber. Im Gegenteil. Das fängt damit an, dass wir aufhören müssen, nur darüber nachzudenken, was wir am besten mit Abfall machen. Die meisten trennen ihren Müll. Das ist gut. Aber für Zero Waste reicht das nicht. Wenn wir gleichzeitig Kleidung, Bücher oder Lebensmittel ausschließlich im Netz bestellen und uns liefern lassen, morgens auf dem Weg zur Arbeit einen Kaffee im Wegwerfbecher holen und abends Burger, Sushi oder Salate in Schalen, Boxen und Beuteln nachhause schleppen, ent stehen sogar Abfälle, die wir früher noch gar nicht hatten. Alle mögen es schnell, praktisch, einfach, billig. Alles muss bequem sein. Alles muss immer verfügbar sein. Niemand will mehr auf irgendetwas warten.

Stefan Tidow: Völlig richtig. Deswegen bedeutet Zero Waste ja einen tiefgreifenden Kulturwandel. Die riesigen Mengen Müll, das hat Herr Heuser bereits gesagt, sind das Neben produkt unseres Konsumverhaltens. All unsere individuellen Gewohn heiten sind davon durchdrungen. Ich beobachte schon, dass hier ein Umdenken einsetzt. Schauen Sie sich allein den Stellenwert an, den wir als Gesellschaft heute Umwelt- und Klimaschutz beimessen. Plastik in den Meeren oder Mikroplastik in Kosmetika sind Themen, die inzwischen sehr viele Menschen umtreiben. Aber natürlich sind wir noch nicht da, wo wir hinwollen. Und es gibt auch leider gegenläufige Trends, etwa dass Verpackungen immer aufwändiger werden.

Tilmann Heuser: Wenn das Umweltbewusstsein hoch ist, tun die Menschen was. Aber noch klaffen Umweltbewusstsein und konkretes Verhalten bei uns allen im Alltag zu sehr auseinander. Wir müssen jetzt mehr ins Handeln kommen.


Wie?
Tilmann Heuser: Die Politik muss das System verändern, die Menschen ihr Verhalten. Gründe, nichts zu unternehmen, gibt es immer: Das nützt doch sowieso nichts. Viel zu kompliziert. Zu ungewiss. Zu anstrengend. Glücklicherweise gibt es immer Menschen, die sich darüber hinwegsetzen, die einfach machen – obwohl es so einfach nicht ist. Die nicht nur sehen, was da ist, sondern, was da sein könnte.

Andreas Thürmer: Das klingt gut. Es gibt aber auch einen wenig spektakulären Zwischenschritt, mit dem sich auf dem Weg zu Zero Waste eine ziemlich große Strecke zurücklegen ließe.
 

Welcher?
Andreas Thürmer: Na ja, es gibt für alle verwertbaren Abfallfraktionen ja bereits getrennte Sammelsysteme. Wenn ab morgen alle ihre Bioabfälle in die Biotonne werfen und kein Glas, kein Papier und keinerlei Verpackungen mehr in den grauen Tonnen landen, dann würde sich das, was als Restmüll übrig bleibt, sofort drastisch reduzieren – womöglich um mehr als die Hälfte.
 

Woran scheitert das?
Andreas Thürmer: An unseren Köpfen. Wir schmeißen Müll weg – und damit ist er verschwunden. Wo der hinkommt? – Die Frage verdrängen wir gerne. Müll wird für Menschen immer erst ein Thema, wenn er sichtbar wird. Auf Bildern, in Zahlen. Das ist vielleicht einer der Gründe, warum es so oft um Mengen geht. Aber während wir uns fragen, wie wir Müll künftig stärker vermeiden können, sollten wir auch schauen, wie das, was den-noch übrig bleibt, besser verwertet werden kann. Das setzt voraus, dass die gesammelten Stoffströme eine gewisse Qualität aufweisen. Was glauben Sie, wie viel Plastik oder Glasscherben wir aus den Biotonnen holen!

Tilmann Heuser: Das ist tatsächlich ein Riesenproblem. Die Küchen- und Gartenabfälle aus der Biotonne landen in Berlin ja in einer Vergärungsanlage, die dann Biogas daraus macht. Die Gärreste werden als Bestandteil von Blumenerde oder als Dünger in Gärten oder in der Landwirtschaft genutzt. Wie viel Fremd-stoffe enthalten sein dürfen, dafür gibt es Grenzwerte. Aber egal wie streng die auch sein mögen – es ist absolut unsinnig, dass wir unseren Plastikmüll am Ende als kleine Kunststoff-partikel zuhause wieder im Blumenkasten verteilen. Das müssen wir vermeiden, indem wir Plastik, Metalle oder Glas erst gar nicht in die Biotonne werfen.

Stefan Tidow: Alles richtig. Deswegen geht es einerseits darum, mit viel Vor-Ort-Beratung, mit einer Bildungs- und Informations-offensive Menschen anzusprechen, damit sie ihr Verhalten ändern. An anderen Stellen müssen wir es aber auch den Menschen einfacher machen. Wenn wir fast müllfrei werden wollen, wenn Möbel, Kleidung, Elektrogeräte oder Geschirr repariert und neu genutzt werden sollen, brauchen wir künftig Annahmestellen dafür und wir brauchen andere und über die Stadt verteilt mehr Recyclinghöfe.

Andreas Thürmer: Ich finde, wir müssen Zero Waste wirklich ganz vom Anfang her denken. Warum werden viele Produkte heut-zutage so produziert, dass sie gar nicht repariert werden können? Warum bestehen viele Verpackungen aus einem Mix an Kunst-stoffen, die so nicht recycelbar sind? Und warum werden Herstel-ler nicht verpflichtet, zu einem bestimmten Prozentsatz wieder-verwendete Kunststoffe als Sekundärrohstoff einzusetzen?

Stefan Tidow: Es gibt in Sachen Zero Waste viele Herausfor-derungen. Das zeigt sich auch an ganz anderen Stellen, etwa auf dem Bau. Wenn Häuser abgerissen oder Straßen erneuert werden, fällt jede Menge Material an: Erde, Beton, Ziegel, Holz, Stahl, Glas, Kunststoffe. Baustellen sind die größte Müll quelle Berlins. 60Prozent aller Abfälle der Stadt sind Bauabfälle, Tendenz steigend. Das sind wertvolle Rohstoffe, die wir nutzen müssen – zum Beispiel als Recycling-Beton für neue Stadtquartiere oder beim Bau neuer Radwege. In meinen Augen ist jedes Haus ein Rohstofflager. Das sollte schon bei der Planung bedacht werden: So bauen, dass später die Rohstoffe bei Umbau, Sanierung oder Abriss optimal wieder verwertet werden können. Wir brauchen auch auf dem Bau eine Kreislaufwirtschaft. Auch das bringen wir mit dem neuen Abfallwirtschaftskonzept weiter voran.

Tilmann Heuser: Ich kann nur sagen, wenn sie mit Architekten, Bauunternehmern oder Immobilienmanagern über den Wert eines Gebäudes sprechen, geht es leider oft nur um den gestalterischen Wert, den Nutzwert, den Wert auf dem Immobilienmarkt. Kaum einer denkt dabei an den Wert der Materialien, die verbaut wurden – erst recht nicht bei Bestandsbauten, die abgerissen werden sollen. Das muss sich ändern. Jeder muss heutzutage vor dem Bauen an die Klimabilanz der eingesetzten Baustoffe denken und wie die Baustoffe später verwendet und verwertet werden sollen.
 

„Zero Waste ist gut für alle, die in, mit und von einer Stadt leben.“

Andreas Thürmer


Wer ein Sinnbild für das müllfreie Berlin der Zukunft sucht, was könnte der sich heute schon anschauen?
Andreas Thürmer: Ich glaube, wir stehen vor einem Umbruch, der sämtliche Bereiche unseres Lebens und unsere Gesellschaft grundlegend verändern wird. Das lässt sich nicht an einem einzelnen Beispiel festmachen, sondern zeigt sich in den vielen Initiativen, Projekten und Startups im Zusammenhang mit Zero Waste – gerade hier in Berlin. Ich freue mich zum Beispiel bei jeder Ausgabe des TrenntMagazins über neue Trenntprojekte, die porträtiert werden, und auch über die Vorhaben, die die Stiftung Naturschutz mit Geldern aus dem „Förderfonds Trenntstadt Berlin“ finanziert. Es sind halt oft die kleinen Schritte, die zusammengenommen viel bewegen können.

Stefan Tidow: Schauen Sie sich zum Beispiel die Kampagne „Better World Cup“ an, die gegen die Flut an Einweg-Kaffee-bechern in Berlin kämpft. Mehr als 1.000 Cafés, Bäckereien oder Supermärkte machen da inzwischen mit. Wer sich dort einen Kaffee zum Mitnehmen bestellt und einen Mehrweg becher mitbringt, zahlt weniger. Daran knüpft unser Pilotprojekt für Pfandbecher an, das sich an Verkaufsstellen entlang der U-Bahn-Linie 2 und der S-Bahn 7 zwischen Westkreuz und Ostkreuz richtet. Dort setzen wir auf Coffee to go in einem Mehrwegpfandbecher aus recycel-barem Kunststoff. Der kostet einen Euro Pfand und kann wieder abgegeben werden, auch ungespült und zwar in allen anderen Cafés und Läden, die Teil dieses Kreislaufsystems sind.

Tilmann Heuser: An Tagen, an denen ich mich frage, ob unsere Schritte in Richtung Zero Waste am Ende doch nur Tippelschritte sind, schaue ich mir die Internet-Karte auf remap-berlin.de an. Und dann sehe ich, an wie vielen Stellen man inzwischen Bücher, Kleidung oder Möbel vor dem Müll bewahren kann, indem man sie dort verschenkt oder tauscht. Oder in welches Repair-Café man mit einem kaputten Toaster oder Wasserkocher gehen kann, wo ehrenamtliche Helfer die Geräte wieder ganz machen oder einem zeigen, wie man das selbst machen kann.


Herr Tidow, wer das Berlin von heute mit Ihrem Bild der Stadt in zehn Jahren vergleicht, hat den Eindruck, dazwischen liegen Lichtjahre. Täuscht das?
Stefan Tidow: Ich weiß, dass unsere Zero-Waste-Vision ambitioniert ist. Und meine Vorstellungen für das Berlin 2030, wie ich sie am Anfang beschrieben habe, gehen ja sogar noch darüber hinaus. Aber zehn Jahre sind ja auch eine lange Zeit. Wir treiben die Dinge voran und beginnen mit dem Machbaren. Dass das einfach wird? – Hat niemand behauptet.

 

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