23. November 2018 | Ausgabe 16

In der Arktis schneit es Mikroplastik

Die Meeresbiologin Melanie Bergmann beschäftigt sich seit Jahren mit Plastik in der Tiefsee. Jedes Jahr fotografiert sie dafür den arktischen Meeresgrund. Im Interview sagt sie, warum ihre Ergebnisse auch die vermeintlichen deutschen Recycling-Weltmeister beunruhigen sollten.

INTERVIEW Nico Schmidt | FOTOS Hahn+Hartung

Portrait lächelnder Frau hinter künstlerisch inszenierten Wasserspritzern.

Frau Bergmann, derzeit vergeht kaum ein Tag ohne einen neuen Bericht über Plastik im Meer. Wie viel Kunststoff treibt denn nun in den Ozeanen?
Das ist die große Frage. Zwar werden immer wieder Schätzungen veröffentlicht, zuletzt 140 Millionen Tonnen Plastik, doch ehrlicherweise muss man sagen: Wir wissen es nicht. Besonders der seeseitige Eintrag ist eine völlige Blackbox.


Was ist genau das Problem am Ozeanmüll?
Das größte Problem dabei ist, dass sich darin Tiere verstricken und Plastik in die Nahrungskette gelangt. Fast alle Meeresbewohner vom Wal bis zum Zooplankton fressen Kunststoffteilchen. Die sind häufig giftig. Bei der Produktion von Plastik werden einigen zum Beispiel Weichmacher beigemischt. Die können dazu führen, dass Tierpopulationen verweiblichen, und so die Fortpflanzung gefährden. Im Wasser sammeln sich aber auch andere Giftstoffe auf den Kunststoffteilen. Und wenn diese etwa von Fischen gefressen werden, die später auf unseren Tellern landen, erreicht der Kunststoff mit diesen Stoffen auch den menschlichen Magen.


Es gibt Schätzungen, nach denen sich nur ein kleiner Teil des Meeresplastiks an der Meeresoberfläche befindet. So geht das Umweltbundesamt davon aus, dass nur 15 Prozent des Kunststoffs auf der Oberfläche treiben. Wo ist der Rest?
Auch dazu gibt es bisher keine verlässliche Zahl. Aber ich finde eine Studie aus den USA aufschlussreich. Dort hat ein Forscher den Plastikmüll eines durchschnittlichen Haushalts untersucht und festgestellt, dass die Hälfte des Plastiks eine höhere Dichte als Wasser hat. Das würde sofort absinken. Andere Plastikteile werden erst mit der Zeit schwerer, wenn sich auf ihnen ein Biofilm bildet und Seepocken, Röhrenwürmer oder Muscheln sie besiedeln. Dann sinken auch diese ab. In der Arktis haben wir am Meeresboden 150 Mal so viel Plastik gezählt wie an der Meeresoberfläche.


Seit vielen Jahren forschen Sie zu Kunststoffteilchen, die den Grund der arktischen Tiefsee erreichen. Wie kamen Sie dazu?
Meine Kollegen und ich beobachten seit mehr als zehn Jahren die Tiefsee in der Framstraße zwischen Grönlandsee und dem Arktischen Ozean. Dort fotografieren wir jeden Sommer an vier Kontrollpunkten in etwa 2.500 Metern Tiefe den Meeresboden. Die Bilder nutzen wir vor allem, um die Tierwelt zu untersuchen. Aber als ich im Spätsommer 2011 die Aufnahmen unserer Expedition sichtete, fiel mir auf, wie viel Plastik auf den Bildern zu sehen war. Seitdem werten wir die Bilder auch auf Kunststoffteile hin aus.
 

„Der Meeresboden ist ein Endlager für Plastik.“

 

Was sehen Sie auf diesen Fotos?
Die Bilder sind meist nur ein Schnappschuss, auf dem ein Plastikfetzen zu sehen ist. Es ist schwierig, festzustellen, woher der Müll kommt. Denn die Meeresströmung kann Kunststoffteile über sehr weite Strecken transportieren. Ich konnte aber auch feststellen, dass einige Plastikteile sich nicht bewegen. So habe ich im Jahr 2016 auf einem Bild einen Plastikfetzen am Meeresgrund entdeckt, der dort bereits 2014 fotografiert worden war.


Was bedeutet das?
Das bedeutet dass, was in der Tiefsee ist, auch dort bleibt. Der Meeresboden ist ein Endlager für Plastik.


Was hat sich verändert, seit Sie begonnen haben, den Meeresgrund zu beobachten?
Es sind immer mehr Plastikteile geworden. An unserer nördlichen Beobachtungsstation hat sich innerhalb von zehn Jahren 23 Mal mehr Müll angesammelt. Auf einen Quadratkilometer Tiefseeboden kommen dort inzwischen mehr als 8.000 Teile.


Die Tiefsee gilt als äußerst sensibles und leicht verwundbares Ökosystem. Wie verändert das Plastik diesen Lebensraum?
Zuletzt haben wir festgestellt, dass etwa die Hälfte des Kunststoffs mit Meeresbewohnern interagiert. Plastikteile bleiben in Schwämmen hängen. Wir konnten auch sehen, dass Tiere beginnen, Plastikteile zu besiedeln. Das ist neu, denn der Tiefseegrund besteht vor allem aus weichem Sediment. Harte Stoffe wie Stein oder Holz gibt es dort kaum.


Sollte man Plastik also Teil dieser Lebenswelt werden lassen?
Uns bleibt nichts anderes übrig. Klar, man kann Fischer bitten, den Plastikmüll, der in ihren Netzen landet, nicht wieder ins Meer zu werfen. Doch zum Glück arbeiten nur wenige Fischer in der Tiefsee. Den Meeresboden dort kann man nicht säubern. Plastik aus mehreren Kilometern Tiefe zu holen, würde mehr Schaden verursachen als helfen.


Wie geht es Ihnen damit, einen solchen Satz zu sagen?
Schön finde ich das sicher nicht. Ich war schockiert, als ich zuletzt die Ergebnisse unserer Mikroplastik-Studie bekam. Denn sie zeigten, dass sich in einem Kilogramm Sediment über 6.000 Kunststoffteilchen befinden. Ich musste mir eine Kilopackung Zucker vorstellen mit tausenden Plastikpartikeln drin. Da wurde mir schon anders. Im vergangenen Jahr haben wir zudem entdeckt, dass sich Plastik auch bereits in enorm hohen Konzentrationen im Eis der Arktis befindet.


Darüber berichtete sogar die „Tagesschau“. Woher stammt das Plastik im Eis?
Ein Teil kann aus Europa stammen. Ein belgischer Kollege hat in einer Studie zuletzt nachgewiesen, dass Müll, der in Großbritannien ins Meer gelangt, innerhalb von zwei Jahren in der Arktis landet. Auch verkehren wegen des Klimawandels immer mehr Kreuzfahrtschiffe in der Region. Innerhalb von zehn Jahren hat sich die Zahl der Touristen in der Arktis verzehnfacht. Neben diesen riesigen Schiffen steuern auch immer mehr Fischer ihre Boote in die arktischen Gewässer. Sie folgen dem Kabeljau, der wegen der Ozeanerwärmung immer weiter nach Norden zieht. Ein anderer Teil des Plastiks könnte aus den Flüssen stammen, die in die Arktis münden und dort ihren Inhalt ergießen, oder von den Arktis-Anwohnern.


Sie meinen, die Anwohner verschmutzen ihr eigenes Meer?
Ja. Im vergangenen Jahr haben isländische Kollegen eine Studie veröffentlicht, in der sie feststellten, dass ein Klärwerk von ihrer Insel aus pro Stunde sechs Millionen Partikel ins Meer leitet. Das ist natürlich viel für eine so kleine Gemeinschaft. Ähnliches dürfte für die Menschen auf Spitzbergen gelten. Wenn die dort ihre Polarkleidung waschen, dann gelangen Mikroplastikpartikel nahezu ungefiltert in den Arktischen Ozean. Wie gesagt, das ist aber nur einer von mehreren Kunststoffzuströmen. Übrigens kann Mikroplastik im arktischen Eis auch aus der Atmosphäre stammen.
 

Das würde bedeuten, Mikroplastik kann bis in die Wolken aufsteigen und dann herabschneien.
Offensichtlich. Denn wir haben hohe Mengen von Mikroplastik in arktischem, aber auch deutschem Schnee gefunden.
 

„Wenn wir wirklich etwas ändern wollen, sollten wir unseren Konsum drosseln. Wir müssen weniger Müll produzieren.“


Soll das heißen, Mikroplastik wird vom Wind bis in die Wolken geweht?
Das liegt nahe. Bisher gibt es dazu wenige Studien. Dazu gehört ein Papier von französischen Forschern. Die stellten Fallen auf die Dächer von Paris und schauten anschließend, was drin war. Sie fanden in den Behältern auch Mikroplastik. Wenn man davon ausgeht, dass wir Mikroplastik im Schnee gefunden haben, dann muss es vorher in den Wolken gewesen sein.


Plastik befindet sich also selbst im arktischen Eis. Was haben steigende Temperaturen und schmelzendes Eis mit Mikroplastik zu tun?
Wenn sich neues Eis bildet, wird Plastik aus dem Wasser gebunden. In der Schmelzperiode – inzwischen leider meist schon im Jahr darauf – verdriftet das Eis. Es wird also ein Transportmedium. Denn das Plastik in Eisschollen driftet aus dem Norden in den Süden und aus dem Eis dort wieder ins Meer.
 

Das klingt alles sehr beängstigend. Andererseits: Deutschland empfindet sich selbst als vorbildlich in Sachen Recycling. Löst Mülltrennung das Problem des Mikroplastiks?
Nein, überhaupt nicht. Das ist eine völlig falsche und leider weit verbreitete Auffassung. Natürlich geht es immer schlimmer, aber das heißt nicht, dass bei uns alles toll ist. Seit wir in den achtziger Jahren das Duale System eingeführt haben, verbrauchen wir wieder deutlich mehr Einfachverpackungen. Selbst wenn wir diese anschließend recyceln, lösen wir das Problem nicht. Denn nur ein kleiner Teil unseres Plastiks ist sortenrein und damit recycelbar. Aber selbst der lässt sich nicht unendlich oft wiederverwerten. Der größte Teil unseres Mülls wird verbrannt und beschleunigt so den Klimawandel. Ein anderer Teil wird nach Malaysia oder Vietnam exportiert. Wenn das Plastik dort in einer Landdeponie gelagert wird und die Sonne darauf scheint, setzt es klimawirksame Gase wie Ethylen und Methan frei. Dazu kommt, von den Deponien kann der Müll einfach wieder ins Meer wehen.


Millionen Kunststoffteilchen treiben bereits im Meer wie Pfefferkörner in der Suppe. Kriegen wir die da eigentlich wieder raus?
Nein. Das könnte vielleicht gelingen, wenn wir irgendwann einen Plastikmagneten erfinden. Davon habe ich bisher aber noch nicht gehört. Das Problem ist: Wenn man kleine Kunststoffteile aus dem Meer holen möchte, braucht man irgendeine Form von Netz. Das muss besonders engmaschig sein. Es wird dann aber nicht nur Kleinstplastik herausfiltern, sondern auch die gesamte Meeresfauna. Für das Ökosystem wäre das fatal.


Initiativen wie „The Ocean Cleanup“ des Niederländers Boyan Slat wollen immerhin versuchen, Müll von der Meeresoberfläche zu sammeln.
Auch davon halte ich nicht viel. Zum einen ist nicht klar, welche ökologischen Auswirkungen solche Müllfangmaschinen haben. Werden sie auch Meeresbewohner einsammeln? Zum anderen werden sie so nur einen winzigen Teil des Plastiks entfernen können, das in den Meeren schwimmt. Dazu kommt, dass solche Initiativen meist Lösungsmethoden suggerieren, die das Problem nicht beseitigen werden. Wenn wir wirklich etwas ändern wollen, sollten wir unseren Konsum drosseln. Wir müssen weniger Müll produzieren.


Wie gelingt Ihnen das bisher?
Nicht so gut, wie ich es mir wünschte. Wenn ich den ganzen Tag im Institut arbeite und nach Feierabend für meine Familie einkaufen muss, kann ich nicht mehr auf den Markt gehen. Dann muss ich auch mal in den Supermarkt. Und was ich da manchmal an Plastik mit nachhause bringe, wenn ich etwas Wurst, Käse oder Obst kaufe, stört mich sehr. Das lässt sich oft kaum vermeiden. Die Politik müsste hier handeln. Verbote erlassen und Anreize schaffen. Damit wir wirklich plastikfrei einkaufen können. Denn viele Plastikverpackungen sind vor allem eins: unnötig.


Melanie Bergmann
ist eine der führenden deutschen Meeresbiologinnen. Seit dem Jahr 2004 beschäftigt sie sich am Alfred-Wegener-Institut für Polar- und Meeresforschung in Bremerhaven mit der Ökologie der Tiefsee. Für ihre Arbeit wurde sie 2012 mit dem Alexander-von-Humboldt-Gedächtnispreis ausgezeichnet. Derzeit forscht sie vor allem zu Plastikmüll in der arktischen Tiefsee. Dort befindet sich das Observatorium des Instituts. Das nennt Bergmann nur ihren „Hausgarten“.

 

Lies hier die zum Interview gehörende Titelgeschichte

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