PRODUKTION
In einem Hinterzimmer am Rand des Prenzlauer Bergs plant Nora Sophie Griefahn, wie sie die Revolution der Kreislaufwirtschaft weiter vorantreiben kann. Sie glaubt daran, dass wir unsere Produkte von Anfang an neu denken, designen, produzieren müssen. Alles, was entsteht, soll vollständig recycelt oder kompostiert werden können, ohne der Umwelt zu schaden. Dafür hat sie einen Verein gegründet, der „Cradle to Cradle“ heißt, von der Wiege zur Wiege. Deren Geschäftsführerin ist Griefahn heute und das Hinterzimmer ist eines ihrer Büros.
Das Konzept hinter dem Verein entstand Anfang des Jahrtausends. Entwickelt hat es der US-amerikanische Architekt Will McDonough gemeinsam mit dem deutschen Chemiker Michael Braungart, Griefahns Vater. Ihre erste Studie veröffentlichten die beiden Wissenschaftler im Jahr 2002. Darin folgten sie einer simplen Idee, die Braungart einem Journalisten damals so beschrieb: „Die Natur produziert seit Jahrmillionen völlig uneffizient, aber effektiv. Ein Kirschbaum bringt tausende Blüten und Früchte hervor, ohne die Umwelt zu belasten. Im Gegenteil: Sobald sie zu Boden fallen, werden sie zu Nährstoffen für Tiere, Pflanzen und Boden in der Umgebung.“ Das Prinzip soll auch in der menschengemachten Produktion angewendet werden. Das Cradle-to-Cradle-Konzept unterscheidet zwei Kreisläufe, den technischen und den biologischen. Für den technischen Kreislauf sollen Produkte möglichst unkompliziert in Einzelteile zerlegt werden können, die anschließend recycelt werden. Im biologischen Kreislauf sollen Produkte der Natur zugeführt werden können, ohne ihr zu schaden.
Als ihr Vater davon träumte, die ewigen natürlichen Kreisläufe in die Warenwelt zu holen, ist Griefahn gerade einmal zehn Jahre alt. „Ich erinnere mich, dass ich damals mal einen Kaugummi auf die Straße gespuckt habe und mein Vater deswegen mit mir geschimpft hat“, sagt Griefahn. „Ich habe gedacht, wenn ich etwas kauen kann, dann muss es doch auch in die Umwelt gehen können.“
Zehn Jahre später, im März 2012, gründet Griefahn den Verein „Cradle to Cradle“: Sie will, dass es keine unvergänglichen Objekte wie Kaugummi mehr gibt. Ihre Mutter, Monika Griefahn, unterstützte die damalige Studentin für Umweltwissenschaften. Sie hatte einst Greenpeace in Deutschland gegründet, arbeitete von 1990 bis 1998 als niedersächsische Umweltministerin und setzt sich mit ihrer Tochter nun dafür ein, die Produktherstellung von Grund auf zu ändern. Die beiden beginnen bescheiden. „Anfangs sind wir losgegangen und haben versucht, einzelne Leute zu überzeugen“, erinnert sich Nora Sophie Griefahn. Sie fragt Menschen aus allen Ecken der Gesellschaft: Eine pensionierte Schulleiterin, ein Chinesisch-Student und eine Kindergärtnerin sind die ersten Mitglieder. Heute gibt es Regionalgruppen in mehr als 40 Städten. „Es geht darum, eine kritische Masse zu erreichen“, sagt Griefahn. So will sie ein Bewusstsein verbreiten, das langfristig zu neuen Produktionskonzepten führen soll. Diese Mission hat Griefahn noch lange nicht abgeschlossen. Ein wichtiges Thema ist dabei für den Verein auch, warum und wie viel Plastik produziert wird.
Vor mehr als 100 Jahren wurde mit Bakelit 1907 der erste industriell gefertigte Kunststoff eingeführt. Es folgten Nylon, Zelluloid, Cellophan, Polyester, Styropor. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde Kunststoff zu einem Massenprodukt. Der Spielzeughersteller Lego führte 1949 seine Plastikbausteine ein, 1958 erfand Artur Fischer den Kunststoffdübel. Die Nutzung von Plastik in der Herstellung hat seither drastisch zugenommen. Im Jahr 1950 wurde weltweit eine Tonne Plastik hergestellt, im Jahr 2015 waren es 300 Millionen Tonnen.
Seit Ende des Zweiten Weltkriegs wird Plastik auch als Garn verwendet, um Kleidung zu nähen. Doch die Menge an Kunststoffgarn nahm in den vergangenen Jahren erheblich zu. Zwischen 2000 und 2016 stieg der Polyester-Einsatz in der Kleidungsherstellung laut Greenpeace von 8,3 auf 21 Millionen Tonnen. Die Organisation schätzt, dass in 60 Prozent der Kleidung weltweit mittlerweile Polyesterfäden verwoben sind.
Ein Shirt aus Plastikfasern, die sich beim Gebrauch und Waschen lösen, sei „kein wünschenswertes Produkt“, sagt Griefahn. Das gilt selbst für T-Shirts, für die PET-Flaschen aus dem Meer gefischt wurden. „Na klar, ich will auch nicht, dass die Flaschen im Meer schwimmen.“ Doch an dem Kunststoff würden sich im Wasser giftige Stoffe sammeln. „Wenn ich dann ein T-Shirt daraus mache, was hoch schadstoffbelastet ist, und das auf der Haut trage, ist das ein großes Problem.“ Sportartikelhersteller, die Plastik aus dem Wasser holen, um daraus Shirts zu machen, würden mitunter gar nicht wissen, was sie da anrichten, sagt Griefahn. „Es gibt vieles, das gut gemeint, aber nicht gut gemacht ist.“ Dem widerspricht der Sportartikelhersteller und verweist auf seine Tests. Es seien die angeblich „strengsten Umweltstandards der Branche“.
Aber es kommt ja auch nicht nur auf die Schadstoffbelastung des T-Shirts an, sondern in welchen Kreislauf es eingebunden ist. Von der Produktion über den Kauf bis zur Entsorgung und auch danach noch – ein Produkt ist immer auch wie eine Kette vieler Glieder. Jedes beeinflusst auch die anderen. Wer ein Glied verändert, muss beachten, was dies für die übrigen Glieder bedeutet. Denn ungewollt kann die vermeintliche Lösung eines Teilproblems, Plastikflaschen im Meer, an anderer Stelle ein viel größeres Problem schaffen.
Doch was kann dann die Lösung sein? Griefahn führt durch eine schwere Holztür aus dem Hinterzimmer in den Vorraum ihres Büros. Licht fällt durch die großen Fenster auf ein Holzregal, in das einige Produkte sortiert wurden, die dem Konzept des Vereins entsprechen. Sie enthalten keine giftigen Stoffe, einzelne Bestandteile können problemlos getrennt und wiederverwertet werden – auch von der Natur. Neben Bad- und Glas-Reiniger liegen im Regal auch T-Shirts. Ein deutscher Textilproduzent fertigt sie aus Biobaumwolle – vollkommen kompostierbar. Statt im Meer zu treiben, können die Fasern im Boden verrotten. Die Kleidung wird zum Nährstoff. Natürlich können nicht alle Menschen auf Biobaumwoll-Shirts umsteigen und im gleichen Maße fröhlich weiter konsumieren – das geben die Ressourcen der Erde nicht her. Um Biobaumwolle herzustellen, muss viel Wasser aufgewendet werden. Es gilt, sich radikal zu bescheiden. Das beste Sportshirt ist vermutlich jenes, das einst aus Naturfasern produziert und über viele Jahrzehnte gepflegt und getragen wurde – und zwar nicht in einer Plastiktüte vom Laden zum Müll. Apropos Tüte!
„An dem Kunststoff im Meer sammeln sich giftige Stoffe. Daraus T-Shirts zu machen, ist ein großes Problem.“
Nora Sophie Griefahn